bullockbefriending bard reviewed Auf See by Theresia Enzensberger
Ein Stoff mit viel Potenzial
3 stars
Mit »Auf See« erschafft Theresia Enzensberger eine nahe Zukunft, die weit wahrscheinlicher klingt, als einem lieb ist. Den Stoff für den Roman liefert der Neoliberalismus, in dessen Namen eine Seestadt in der Ostsee errichtet wird, der heruntergekommenen Utopie, in der Yada zu Hause ist. Obwohl die Siebzehnjährige die Tochter des Gründers ist, wird sie über vieles im Dunkeln gelassen – insbesondere, was mit ihrer Mutter in Wahrheit passiert ist. Unterdessen streift Künstlerin Helena, die zweite Protagonistin, durch das Nachtleben von Berlin, schläft mal hier, mal dort. Sie versucht, mit der Sekte klarzukommen, die sie versehentlich gegründet hat, als sie aus einer Laune heraus zehn Ereignisse prophezeit, die zufällig eintreffen.
Im Wechsel zwischen diesen Erzählperspektiven schildert Theresia Enzensberger die Handlung im distanzierten Erzählstil, sodass die emotionale Verbindung zu den Protagonistinnen in den dargestellten Fakten gesucht werden muss. Zu sagen hat die Autorin viel und mit der Seestadt und dem Deutschland der nahen Zukunft ist ein interessanter Schauplatz für einen spannenden Roman gegeben. Auch Yadas Erwachsenwerden und die Suche nach ihrer Mutter liefern Stoff für eine Suche nach sich selbst. Doch wird jedem einzelnen Potenzial zu wenig Raum gegeben und so viel parallel angeschnitten, dass »Auf See« sich wie ein wilder Cocktail aus zu vielen Zutaten anfühlt. Das Interesse an den Personen bringt einen durch die wenigen Seiten, aber nur mithilfe der anregenden Gedanken, die Rätsel um Yadas Mutter und die leicht zu lesende Prosa. Gelegentlich stolpert man über etwas Bildungssprache, die wie Fragmente des literarischen Werkes wirken, das »Auf See« auch hätte sein können.
Das Lesen von »Auf See« fühlt sich an, als hätte man die sachliche Zusammenfassung eines epischen Romans vor sich liegen, der vor Emotionen und faszinierenden Personen nur so strotzt. Die wahre Geschichte erzeugt Theresia Enzensberger in unserem Kopf, indem sie in uns die Sehnsucht nach einer dickeren, gefühlshaltigeren Version ihres Werkes weckt. Es ist nichts Schlechtes, wenn einem das Verlangen nach mehr packt, aber es ist schade, um das verschwendete Potenzial, das hier verborgen liegt – zumal die Autorin zeigt, dass sie in der Lage ist zu schreiben.
»Auf See« ist kein Sachbuch, kein literarisches Werk, kein Entwicklungs-, Liebes- oder Jugendroman. Selbst die nahe Zukunft wird nicht genau genug behandelt, um das Science-Fiction-Attribut zu verdienen. Dieses Buch verteidigt seine Existenz mit dem Vermischen der Genres und ist dadurch zwar exotisch, hat aber nicht den Biss, den es hätte haben können.