Reviews and Comments

Nils Müller liest

weltenkreuzer@tomes.tchncs.de

Joined 1 year, 11 months ago

This link opens in a pop-up window

Andreas Eschbach: Die Abschaffung des Todes (Deutsch language, Lübbe) 4 stars

Old School aber spannend und ideenreich

4 stars

Mit "Die Abschaffung des Todes" schreibt Andreas Eschbach mal wieder einen seiner Techno-Thriller, in denen er eine spannende und reißerische Handlung nutzt, um technologische und philosophische Ideen vorzustellen. Dabei hat man in diesen Büchern von ihm immer das Gefühl, dass die Handlung zwar sehr gut konstruiert ist, aber im Kern nur dazu dient, die Hauptfigur von einem erklärenden Monolog zum nächsten zu geleiten und den Leser dabei nicht zu verlieren.

Die Balance zwischen diesen beiden Aspekten gelingt Eschbach mal mehr und mal weniger gut, dieses Buch ist jedoch mal wieder ein Positivbeispiel: Während seine Hauptfigur dem Geheimnis hinter einem neuen Tech-Start-up nachspürt, lernt sie genau wie die Lesenden eine Menge über das Funktionieren des Gehirns, die Philosophie des Geistes und die technologischen Möglichkeiten, Intelligenz abzubilden.

Das scheint mir im Kern souverän, aber auf das Bild des Gehirns als signalverarbeitendem „Computer“ beschränkt. Das passt natürlich, weil der Roman ja genau im …

Christine Rosen: Extinction of Experience (2024, Norton & Company, Incorporated, W. W.) 2 stars

Bleibt sehr unkonkret und einseitig kulturkritisch

2 stars

Auch wenn die Autorin sich ein hehres Ziel setzt, die Rolle echter physischer Erfahrungen herauszuarbeiten, gelingt ihr das in diesem Buch leider nur sehr begrenzt. Das liegt in erster Linie daran, dass sie – wie so viele andere Arbeiten zu diesem Thema – einen harten Gegensatz zwischen der digitalen und der analogen Welt aufmacht. Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Welten, beziehungsweise ihr nahezu vollständiges Verschmelzen, sind nicht vorgesehen.

Gerade für Gruppen, die bislang nicht im Zentrum der Gesellschaft stehen oder die weniger privilegiert sind, sind eben die unmittelbar verfügbaren Erfahrungen nicht immer die besseren. Dieser Aspekt bleibt jedoch in ihrem Buch vollständig außen vor, das sich so in die lange Reihe einseitiger Kulturkritik einreiht – nicht, dass es an der einen oder anderen Stelle nicht auch valide Punkte ansprechen würde.

Sarah Brooks: Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland 5 stars

Irgendwo zwischen Haruki Murakami und Jeff Vandermeer

5 stars

Ich bin ja eigentlich nicht so der Freund von Büchern, die ihren Fokus darauf legen, eine „weirde“ Verfremdung unserer Welt vorzustellen. Jeff Vandermeers „The Southern Reach“-Reihe war mir zum Beispiel einfach zu fremd, ähnlich wie manche Romane China Mievilles. Gleichzeitig mag ich das leicht lakonisch-entrückte von Autoren wie Haruki Murakami.

Wie gut, dass „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ hier eine perfekte Balance schlägt. Im Gewand eines historischen Romans erzählt Sarah Brooks die Geschichte einer etwas anderen Transsibirischen Eisenbahn, die auf ihrem Weg von Peking nach Moskau ein Gebiet durchqueren muss, in dem sich Flora und Fauna ständig verändern und für uns Menschen gefährlich sind. Aber was ist eigentlich genau die Gefahr, die von diesem Gebiet ausgeht?

Ich habe den Roman als Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur gelesen. Als Metapher auf den Mensch, der die Natur nur dann mag, wenn sie ihm dient; wenn er …

Trudi Canavan: Maker's Curse (2020, Little, Brown Book Group Limited) 4 stars

Etwas aufgesetzt, an sich, aber spannend und souverän erzählt

4 stars

Auch das vierte und letzte Buch der Reihe Millennium’s Rule von Trudi Canavan ist eine flotte und actionreiche Fantasy-Geschichte mit bekannten Figuren und Themen: Es geht um den verantwortlichen Umgang mit Macht, Krieg und seine Konsequenzen und diesmal auch eine sehr deutliche Kritik an der rücksichtslosen Ausbeutung globaler Ressourcen. Die Kapitalismuskritik ist ohnehin ein Thema, das sich durch die vier Bände zieht, auch wenn es hier am deutlichsten herauskommt.

Die erste Hälfte des Buchs liest sich dann auch wie ein Epilog auf die bisherige Reihe, der zahlreiche Handlungs- und Charakterfäden an ein befriedigendes Ende bringt. Die zweite Hälfte bringt dann eine neue Geschichte, die wiederum etwas aufgesetzt wirkt, an sich, aber spannend und souverän erzählt wird.

Trudi Canavan: Successor's Promise (Millennium's Rule) (2018, Orbit) 4 stars

Spannende und flotte Geschichte

4 stars

Im dritten Band der Reihe stellen sich Rielle und Tyen einer weiteren Herausforderung. Dafür müssen sie neue Kräfte erlangen und mit diesen umgehen lernen. Sie erkennen aber auch, welche Verantwortung und welche Risiken mit großer Macht einhergehen.

Wieder schafft es Canavan sehr gut, eine spannende und flotte Geschichte zu erzählen und gleichzeitig Figuren wie Themen zu entwickeln. Tyens und Rielles neue Kräfte bringen nicht nur Vorteile mit sich, sondern stürzen sie zusammen mit der großen Bedrohung in Dilemmata, die sich nicht eindeutig auflösen lassen. Die Geschichte an sich wirkt jedoch irgendwie aufgesetzt und etwas künstlich an den zweiten Teil herangeflanscht.

Matteo Pasquinelli: The Eye of the Master (2023, Verso) 5 stars

Viele spannende Impulse und trägt zu einem differenzierteren Gesamtbild der Geschichte des Computers bei

5 stars

Mit der weiteren Verbreitung von „künstlicher Intelligenz“ scheint jetzt auch die Wissensarbeit vor einer Welle der Automatisierung zu stehen. Dabei ist diese Entwicklung keineswegs neu, wie Matteo Pasquinelli in seinem Buch The Eye of the Master zeigt. Vielmehr ist die Entwicklung von Computern und digitalen Algorithmen ganz eng mit der Organisation und Arbeitsteilung verbunden - physischer wie mentaler Arbeit. Zentrale Entwicklungen, wie beispielsweise die Differenzmaschine von Charles Babbage, entstanden aus einer intensiven Auseinandersetzung mit Formen der Arbeitsteilung in der jeweiligen Zeit.

Pasquinellis Buch fand ich ideengeschichtlich höchst interessant, gerade weil es zeigt, wie die aktuelle KI-Welle in einer langen Tradition steht. Sie ist keineswegs neu, sondern von Beginn an in der Entwicklung von Computern und Algorithmen angelegt. Dabei ist das Buch theoretisch allerdings relativ anspruchsvoll und meiner Wahrnehmung nach nicht immer komplett stringent argumentiert. Es liefert aber viele spannende Impulse und trägt zu einem differenzierteren Gesamtbild der Geschichte des Computers …

Aiki Mira: Neongrau (EBook, German language, 2022, Polarise) 4 stars

Hamburg im Jahr 2112: Die Stadt wird immer wieder von Starkregen geflutet, im Binnendelta hat …

Eher einfach gestrickte, aber spannende Geschichte, in der die Welt der eigentliche Star ist

4 stars

In dem Roman „Neongrau“ zeigt Aiki Mira eine faszinierende Zukunftswelt, die einige aktuelle Trends konsequent weitergeht: Mittlerweile ist nicht nur die Jugendkultur, sondern die gesamte Gesellschaft bestimmt von der Gaming-Kultur. Profi-Gamer sind globale Mega-Stars, die ganze Stadien füllen, wenn sie in Tanks mit Neuro-Substrat in virtuellen Welten gegeneinander antreten. VR spielt auch im Alltag der Menschen eine zentrale Rolle, auch wenn sich nicht alle der Dominanz weniger globaler Konzerne kampflos ergeben.

Inmitten dieser Spannung suchen die Hauptfiguren des Romans ihren Platz in der Gesellschaft: Sei es Go/Stuntboi, das Kind einer Gaminglegende, die Musikerin ELLL aber eben auch die erfolgreichen Gamer-Geschwister Ash und Phoenix. Aiki Mira erzählt mit ihnen eine eher einfach gestrickte, aber spannende Geschichte, in der die Welt der eigentliche Star ist. Am Anfang habe ich zwar einige Zeit gebraucht, um mich in ihr zu orientieren, aber warum sollte es mir auch besser gehen als den jungen Menschen, die …

Shola Richards: Civil Unity (Forbes Books) 5 stars

Überzeugendes Plädoyer, dass wir gesellschaftliche Veränderung nur dann erreichen, wenn wir verbindlich und klar kommunizieren

5 stars

In seinem Buch "Civil Unity" stellt Shola Richards dar, wie Höflichkeit und Anstand in der Kommunikation ein wichtiges Mittel sein können, um unsere gesellschaftlichen Spannungen zu reduzieren. Das heißt jedoch nicht, dass Missstände dadurch nicht mehr klar angesprochen und Konflikte auf der Sachebene nicht mit harten Bandagen ausgetragen werden dürften.

Er kommt dabei in erster Linie von der Beobachtung, dass ein harscher Ton selten dazu führt, dass Menschen ihre Meinung ändern und etablierte Überzeugungen so eher verfestigt werden. Er akzeptiert dabei auch, dass einzelne Gespräche ohnehin selten in der Lage sind, Meinungen zu verändern. Sozial angenehme, aber inhaltlich konfliktreiche Interaktionen können hingegen Nachdenken und Reflexion anregen und auf diese Weise Veränderung bewirken.

Richards bietet in diesem Zusammenhang zahlreiche praktische Tipps und Hinweise für höfliche und verbindliche Kommunikation. Er macht aber auch deutlich, dass wir Gespräche, in denen eine solche gemeinsame Grundlage nicht zu finden ist, möglichst schnell abzubrechen sind.

In …

Georgi Gospodinov: Time Shelter (2023, Orion Publishing Group, Limited) 4 stars

In Time Shelter, an enigmatic flâneur named Gaustine opens a 'clinic for the past' that …

Spannender Roman über den Sirenengesang der "guten alten Zeit".

4 stars

In seinem Roman „Zeitzuflucht“ entwickelt der bulgarische Autor Georgi Gospodinov eine sehr spannende Idee: Seine Hauptfigur Gustín entwickelt eine Möglichkeit, Menschen in gewisser Weise in der Zeit zurückreisen zulassen, indem man ihnen einen Wohnraum bietet, der einer vergangenen Zeit angepasst ist – mit Möbeln, Produkten, Zeitungen und auch Nachrichten aus dieser Zeit. Anfangs als sicherer Raum für an Demenz erkrankte Menschen gedacht – übrigens ein Konzept, das tatsächlich auch in unserer echten Welt umgesetzt wird –, wird der Gedanke bald auch für gesunde Menschen und schließlich sogar ganze Gesellschaften interessant.

Während der erste Teil der Entstehung und Ausbreitung dieser Idee in meinen Augen ein wenig trocken daherkommt, hatte mich das Buch so ungefähr aber der Mitte dann wirklich gefesselt: Hier geht es in erster Linie darum, wie die unterschiedlichen europäischen Staaten versuchen, ihre eigene Geschichte wieder aufleben zu lassen und dann zu konservieren. Dabei erzählt Gospodinov weniger eine konsistente Geschichte, …

Charles Duhigg: Supercommunicators (2024, Random House Publishing Group) 5 stars

Lebensnahe Praxistipps, die gleichzeitig hilfreich, unterhaltsam zu lesen und wissenschaftlich fundiert sind.

5 stars

In seinem Buch "Supercommunicators" stellt Charles Duhigg ein einfaches Paradigma vor, besser mit anderen Menschen zu kommunizieren. Im Kern geht es dabei nicht darum, Gespräche zu "gewinnen", sondern in Verbindung zu dem Gesprächspartner zu treten und gemeinsam ein aufschlussreiches Gespräch zu führen.

Wie schon in seinem Buch "Habit" bereitet Duhigg hier ein komplexes Thema auf und bietet lebensnahe Praxistipps, die gleichzeitig hilfreich, unterhaltsam zu lesen und wissenschaftlich fundiert sind.

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka) (German language, 2014) 5 stars

Dieser Roman ist über die Literaturwelt gekommen wie ein Naturereignis: ein wuchtiges Familienepos, das am …

Ein großer Roman über Frauen im 20. Jahrhundert, über Georgien und die Welt

5 stars

Was für ein Brett von Buch: Auf mehr als 1200 Seiten bzw. 43 Stunden Hörbuch erzählt Nino Haratischwili die Geschichte einer georgischen Familie über den gesamten Verlauf des 20. Jahrhunderts – im Gegensatz zu klassischen historischen Panoramen aber nicht aus der Perspektive mächtiger Männer, sondern aus der von Frauen einer gehobenen Schicht aber fern der Macht.

Es geht dabei um Hoffnungen und Pläne, aber auch um Traumata und Leid in einer sich stetig wandelnden Welt. Alle Hauptfiguren tragen die Geschichte der Familie in sich und suchen ihren eigenen Weg, mit dem Wandel umzugehen.

Leonardo Padura: Ketzer (2015, Unionsverlag) 3 stars

Durchaus interessant, aber über weite Strecken auch sehr zäh

3 stars

Ketzer ist eine ausschweifende Geschichte über den Weg eines Bildes aus der Werkstatt des Malers Rembrandt aus Amsterdam über Polen nach Kuba. Es bietet spannende Einblicke in die jüdischen Gemeinden in Kuba nach dem zweiten Weltkrieg und in Amsterdam Mitte des 17. Jahrhunderts sowie in das Kuba der frühen 2000er Jahre. Dabei ist die Geschichte weniger ein Kriminalfall, wie der Klappentext vermuten lässt, als ein Anlass, das Leben der Menschen vorzustellen.

Für mich kam dabei die Geschichte als Geschichte zu kurz und es kam nur selten wirklich Spannung auf. Auch die Rahmenhandlung dient nur als loser Faden, der die Erzählung nur notdürftig zusammenhält. Insgesamt fand ich Ketzer daher durchaus interessant, aber über weite Strecken auch sehr zäh.